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Zeitgeschichte: Der Politik dicht auf den Fersen

24.11.2025

Die LMU-Historikerin Isabel Heinemann leitet seit Kurzem das Institut für Zeitgeschichte (IfZ). Sie arbeitet zur NS-, Geschlechter- sowie Demokratiegeschichte und warnt vor politischen Gefahren für die Wissenschaft.

„Wenn eine Partei wie die AfD an der Regierung beteiligt wird, dann haben wir ein Problem.“ Für Professorin Isabel Heinemann wäre eine solche Entwicklung ein Worst-Case-Szenario, denn sie befürchtet bei einer Regierungsbeteiligung der AfD eine massive Gefährdung der Forschungsfreiheit, besonders für ihr Forschungsgebiet: „Die Zeitgeschichte ist der Politik und der aktuellen Gesellschaftsgestaltung immer dicht auf den Fersen.“
Gesellschaftliche und politische Extreme spielten und spielen auch in der Forschung der Historikerin immer eine wichtige Rolle.

Professorin Isabel Heinemann ist seit Oktober dieses Jahres Lehrstuhlinhaberin für Neueste Geschichte an der LMU und Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ).

© Johanna Weber

Demokratie und Resilienz

Wie Demokratien widerstandsfähig Anfechtungen von rechts oder links, von innen oder außen begegnen können – das ist denn auch eine der wichtigen Forschungsfragen, mit denen sich Heinemann und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Zeitgeschichte beschäftigen werden. „Die Forschung zur Demokratie ist am IfZ schon gut aufgestellt. Wir wählen aber noch einen weiteren Zugriff, indem wir uns Demokratien und ihre Resilienz im Verlauf der Geschichte ansehen – auch in transnationaler Perspektive.“ Für Deutschland heißt das unter anderem, sich nicht auf die Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus zu beschränken, sondern auch den Umgang mit verfassungsfeindlichen Bewegungen wie der NPD, den Republikanern oder der AfD in der Bundesrepublik zu untersuchen.

Geschichte der Gewalt

Auf der wissenschaftlichen Agenda der Historikerin steht zudem eine Geschichte der Gewalt, die dabei helfe, angesichts der vielen gegenwärtigen Konflikte und Krisen „sinnvolles zeithistorisches Orientierungswissen zu vermitteln“.

Im Zentrum des hierzu geplanten Projekts, das mit einer Stelle an der LMU ausgestattet wird, um einen ersten Förderantrag zu erarbeiten, steht eine vergleichende Betrachtung der deutschen NS-Besatzungsregime in den unterschiedlichen Regionen. Beispiele hier sind etwa Polen, Serbien oder der besetzte Teil der Sowjetunion, in denen die Deutschen brutal agierten, im Gegensatz etwa zu Frankreich, wo nur der Norden einem regelrechten Besatzungsregime unterworfen war, während der Süden unter deutscher Oberherrschaft relativ unabhängig bleiben konnte. Ziel der Untersuchung ist es, herauszuarbeiten, wie diese Besatzungsregime die Nachkriegsentwicklung und Gesellschaften in den betroffenen Regionen in langfristiger Perspektive geprägt haben.

Deutsch-deutsche Geschlechtergeschichte

Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Geschlechtergeschichte in der Bundesrepublik und der DDR nach 1945 – ein Thema, an dem die Historikerin derzeit auch in einem Buchprojekt arbeitet. „Ich möchte beide deutschen Staaten nicht voneinander separieren, sondern im Kontext untersuchen.“
Auch an der LMU konnte sie die Weiterführung dieses Themenfelds sichern.

Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, insbesondere vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Zuschreibungen, nach denen die öffentliche Sphäre traditionell dem Mann und die private der Frau beziehungsweise der Familie zugeordnet wird. In diesem Zusammenhang spielt auch die Frage des Gewaltschutzes eine entscheidende Rolle: „Wenn Gewalt gegen Frauen oder Kinder ausgeübt wird, greift der Staat im privaten Bereich ein. Die Frage ist allerdings, wann er das tut.“

Diese Fragestellung soll in einem Promotionsprojekt vertieft werden, für das Isabel Heinemann ebenfalls eine Stelle an der LMU einwerben konnte.

Rassismus und soziale Segregation als strukturierende Kraft

Heinemanns Forschungsthemen liegen vorrangig im 20. Jahrhundert. „Es ist die Epoche der Weltkriege und beispielloser Menschheitsverbrechen wie dem Holocaust und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Nach 1945 sehen wir zudem dramatische gesellschaftliche Umbrüche, Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse und deren Auswirkungen – eine historisch unglaublich spannende Epoche“, erläutert sie.
Promoviert wurde Heinemann an der Universität Freiburg über die Rasse- und Siedlungspolitik des NS-Regimes.

Ihre Habilitation an der Universität Trier führte sie in die USA des 20. Jahrhunderts. In diesem Kontext befasste sie sich mit der Familien- und Geschlechtergeschichte der US-amerikanischen Gesellschaft. Ausgehend von dem in der Wissenschaft bislang dominanten Narrativ einer stetig voranschreitenden Liberalisierung der US-amerikanischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatierte Heinemann, dass sich in der Gesellschaft liberal-progressive Wertauffassungen nicht einfach linear fortschreiben.

„Ich würde eher von Wellenbewegungen sprechen“, sagt sie. „Phasen der liberalen Öffnung wurden immer wieder von konservativen Gegenbewegungen abgelöst.“ Als Beispiel nennt sie die Abtreibungsdebatte: Hatte der Supreme Court noch 1973 das Selbstbestimmungsrecht der Frau gestärkt und mit seinem Urteil „Roe vs. Wade“ fünf Jahrzehnte lang eine liberale Abtreibungspraxis geprägt, werde dieser Fortschritt aktuell vor allem durch konsequentes politisches Wirken der religiösen Rechten und die erratische Trump-Regierung rückgängig gemacht: Ein konservativ besetzter Supreme Court hob das Urteil im Juni 2024 wieder auf, erneut mit internationaler Signalwirkung.

Ähnliche Prozesse sieht sie auch in Deutschland: „Die Geschichte der Bundesrepublik wurde häufig in einem ebensolchen Fortschrittsnarrativ gesehen. Wenn man aber genauer hinschaut, sieht man immer wieder extreme Verhärtungen, auch konservative Rückwärtsbewegungen.“ Dies helfe auch zu verstehen, warum eine Partei wie die AfD so erfolgreich sein kann.

Und obwohl die Themen ihrer Dissertations- und ihrer Habilitationsschrift zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen – ein Merkmal eint sie doch: „In beiden Fällen kann man Rassismus, unter anderem durch Eugenik oder biologistische Exklusionspolitiken, sowie Gemeinschaftsfiktionen bei gleichzeitiger sozialer Segregation als strukturierende Kräfte in der Gesellschaft ausmachen.“

„Ich will nicht nur Institutsleiterin sein“

Besonderen Wert legt Isabel Heinemann auf die Lehre. „Ich will ausdrücklich nicht nur Institutsleiterin sein, sondern lege Wert auf die Verankerung an der Universität“, betont sie. „Zunächst bietet mir die LMU als forschungsstarke und disziplinär breit aufgestellte Exzellenzuniversität hervorragende Möglichkeiten der interdisziplinären Kooperation und der Entwicklung neuer Forschungsprojekte.“ Doch auch die Lehre sei zentral, denn gerade der Austausch mit Studierenden und Promovierenden liefere wichtige Impulse für die Forschung.

An der LMU bietet sie Vorlesungen und Seminare zur Zeitgeschichte an, insbesondere zur NS-Geschichte und zur deutsch-deutschen Geschichte. Obwohl sie noch nicht lange an der Universität tätig ist, hat sich ihre Vorlesung im laufenden Semester bereits „sehr gut angelassen – obwohl ich noch unbekannt bin. Normalerweise braucht es zwei Semester, bis die Studierenden wissen, wer man ist und was sie erwartet.“

Neben ihren Lehrveranstaltungen betreut sie zudem ein gemeinsames von LMU und IfZ organisiertes Forschungskolloquium, in dem Examensarbeiten und Dissertationen vorgestellt werden.

Zeitgeschichte und Transfer

„Die Leitung des IfZ empfinde ich als großes Privileg“, betont die Zeithistorikerin. Entsprechend umfassend ist die strategische Agenda, die sie in ihrer Amtszeit zu erarbeiten sich vorgenommen hat. Nicht nur möchte sie Synergien zwischen den einzelnen IfZ-Standorten in München, Berlin und der Dokumentation Obersalzberg stärken. Auch Kommunikation, Digitalisierung sowie Internationalisierung sollen weiter ausgebaut werden, „natürlich ohne dabei die deutsche Zeitgeschichtsschreibung aus dem Blick zu verlieren“.

Besonders wichtig ist ihr vor allem der Forschungstransfer. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir nicht mehr voraussetzen können, dass alle bereit sind, dicke Bücher zu lesen. Wir müssen also Ideen entwickeln, unsere Expertise zu zeithistorischen Themen, die eine hohe Relevanz für die Gegenwart haben, an die Menschen zu bringen. Dass sie sie verstehen, sie abrufen und nutzen.“

Versorgung mit zeithistorischem Orientierungswissen

Obwohl das IfZ bereits über ein umfangreiches digitales Repositorium mit zahlreichen Publikationen zum kostenfreien Download verfügt, sollen die digitalen Angebote weiter ausgebaut werden. Für eine neue Abteilung „ZeitgeschichteTransfer“ ab 2027 konnte das IfZ zusätzliche Mittel einwerben. So soll künftig der Forschungstransfer gestärkt und insbesondere Entscheider und Multiplikatorinnen in Politik und Gesellschaft noch gezielter mit zeithistorischem Orientierungswissen versorgt werden.

Gerade in Zeiten, in denen extreme Ansichten und Parteien zunehmend Zulauf erhalten, kommt der zeithistorischen Forschung eine zentrale Rolle zu: Sie liefert fundierte Orientierung, ordnet aktuelle Entwicklungen historisch ein und stärkt damit die demokratische Debattenkultur, kurz, sie ist der Politik dicht auf den Fersen.

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